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21.11.2024 Kategorie: Pressestelle

Das Gewicht der Sünde

Diskussion über sexualisierte Gewalt in Kirche und Diakonie

Braunschweig (mic). Vergebung ist weder ein ethisches Konzept zur Konfliktbewältigung noch eine Selbstverständlichkeit. Das betonte der evangelische Theologe Notger Slenczka (Berlin) am 29. Oktober in der Evangelischen Akademie Abt Jerusalem in Braunschweig. Schuld müsse getragen, bereut und bearbeitet werden, sonst sei die Forderung nach Vergebung nicht mehr als eine „theologische Kurzschlusshandlung“. Vergebung setze Buße voraus und sei nur in Gerechtigkeit denkbar. Das „Gewicht der Sünde“ dürfe nicht aus dem Blick geraten. Angesichts der Fälle von sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie müsse deutlich werden, dass Täter Verantwortung für ihre Taten übernehmen müssen. Gleichwohl bleibe Vergebung das Zentrum des christlichen Glaubens und nicht die Verurteilung des Sünders: „Vor Gott gibt es keine hoffnungslosen Fälle.“
Slenczka ging der Frage nach, in wie weit die evangelische Theologie strukturelle Ursachen sexualisierter Gewalt in der Kirche befördert. Neben einem oberflächlichen Verständnis von Vergebung kritisierte er die Vorstellung einer Kirche als Gemeinschaft gleichberechtigter Geschwister. Diese erschwere auf der Ebene der Organisation ein Bewusstsein für klare Leitung und Aufsicht und sei deshalb nicht „geländetauglich“. Dienstverhältnisse müssten erkennbar bleiben, Machtverhältnisse dürften nicht zugedeckt werden. Gerade flache Hierarchien könnten eine Gefahr für Übergriffe darstellen, weil dadurch insbesondere charismatischen Personen ein Raum geboten werde, andere Menschen unkontrolliert zu beeinflussen.
Auch der Soziologe Martin Watzlawik (Hannover) sprach von einem „Milieu der Geschwisterlichkeit“ in der Kirche, das sexualisierte Gewalt fördere. Und ein „Harmoniezwang“ erschwere einen angemessenen Umgang damit. Betroffene stünden in der Gefahr, sozial ausgeschlossen zu werden, wenn sie Beschuldigungen aussprechen; mit der Folge, dass viele vor diesem Schritt zurückschreckten. Auf diese Weise setze sich das Unrecht fort, das ihnen widerfahren ist. Fortgesetztes Schweigen und eine mangelnde Aufarbeitung erlittenen Leids setzten aber auch das Trauma fort. Mit gravierenden psychischen und körperlichen Folgen für die Betroffenen.
Deswegen müsse die Kirche offensiv, professionell und mit Empathie für die Betroffenen die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in ihrem Bereich vorantreiben. Watzlawik ist Leiter des Forschungsverbunds ForuM, der eine großangelegte wissenschaftliche Studie zu dem Thema vorgelegt hat. Als weitere Risikofaktoren nannte er unter anderem das Machtgefälle zwischen Pfarrern und Ehrenamtlichen, die Verwischung von Beruf- und Privatsphäre, unklare Verantwortlichkeiten sowie ein zu positives Selbstbild.
Entscheidend sei, dass Leitungspersonen in der Kirche ein reflektiertes Verständnis von Distanz und Nähe haben. Beide Qualitäten seien im Kontakt zu Mitarbeitenden notwendig, und zwar gleichzeitig, so Watzlawik. Wie wichtig diese Forderungen sind, machte der Pfarrer und Missbrauchsbetroffene Matthias Schwarz (Pohlheim) deutlich. Er berichtete, wie er als Jugendlicher von einem charismatischen Pfarrer missbraucht wurde. Er habe zu dem Pfarrer aufgesehen und sei von diesem gefördert worden. Dann aber habe dieser sein Vertrauen ausgenutzt.
Lange Zeit habe er darüber nicht sprechen können und unter dem Schweigen gelitten. Schwarz appellierte deswegen an die Kirchengemeinden, ihre Sprachlosigkeit beim Thema sexualisierte Gewalt zu überwinden und mit Betroffenen auf Augenhöhe zu kommunizieren. „Denkt nicht, bei uns gibt es so etwas nicht.“

Diskussion über sexualisierte Gewalt. Foto: LK BS