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26.06.2009 Kategorie: Predigten

Wie wäre mein Leben verlaufen

Auftakt der Predigtreihe "Poesie und Bibelwort" vom 26. Juli 2009

Liebe Gemeinde, wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich damals eine andere Entscheidung getroffen hätte? Sicherlich kennen Sie dieses Gedankenspiel. Wenn ich damals zum Studieren nicht nach Braunschweig gegangen wäre, wäre ich wahrscheinlich nicht Pastorin geworden. Was hätte ich dann für einen Lebenslauf gehabt? Wäre ich dann Lehrerin geworden? Wie wäre mein Leben verlaufen, wäre mir nicht dieses widerfahren oder hätte ich nicht jene Entscheidung getroffen. „Man lebt nicht alle Leben, die man leben könnte." Das antwortete Hilde Domin auf die Frage, warum sie schreibt. Es ist nichts, was man sich bewusst vornimmt. Man wacht nicht morgens auf und denkt: jetzt werde ich Dichterin. Und setzt sich hin und schreibt Gedichte. So geschieht es nicht. „Es passiert einfach." Für Hilde Domin war das Schreiben der Weg zurück ins Leben. Verschiedene Erfahrungen in ihrem Leben hatten sie in eine tiefe Lebenskrise gestürzt. Ihr Schreiben ist ihr Weg aus dem tiefen Dunkel heraus. Das ist ihr einfach passiert. Sowohl das Dunkel als auch der Weg aus dem Dunkel heraus. Wie wäre ihr Leben verlaufen, wäre sie nicht als Kind jüdischer Eltern 1909 in Köln geboren worden? Diese Frage ist wohl müßig. Denn sie ist nun einmal als Kind jüdischer Eltern 1909 in Köln geboren worden. Damals war noch nicht abzusehen, was das später für die Familie bedeuten würde. Mit der Machtergreifung Hitlers sind Hilde Domins Eltern, Eugen und Paula Löwenstein, auf ihr Drängen hin, nach England geflüchtet. Sie selbst ging mit ihrem späteren Ehemann Erwin Walter Palm nach Italien. Dort promovierten beide und heirateten anschließend 1936. Drei Jahre später, bei Kriegsausbruch, flüchteten sie nach England und flohen 1940 weiter auf einem Frachter in die Dominikanische Republik. Dort leben sie 12 Jahre. Nach 22 Jahren Exil kehren Hilde Domin und ihr Mann 1954 nach Deutschland zurück. „Man lebt nicht alle Leben, die man leben könnte." Das ist wohl wahr. Denn manche werden einem einfach von außen verbaut. Andere lebt man nicht, weil man entschieden hat wie man sich nun einmal entschieden hat im Leben. An anderer Stelle sagt Hilde Domin, dass es Zeichen von Erwachsensein ist, wenn man das, was man gerne haben möchte, nicht bekommt, aber trotzdem damit leben kann, den Mangel einbaut in das eigene Leben. Sie hätte ein einfacheres Leben haben können. Hat sie aber nicht. Wir hätten ein anderes Leben haben können, haben wir aber nicht. Die Frage: „was wäre, wenn ..." ist müßig. Die Frage, wie lebe ich, ist entscheidend. Und was trägt mich letztendlich. Was hilft mir, mein Leben zu leben. Das sind die Fragen, die wir beantworten müssen. Nach dem Tod ihrer Mutter 1951 fiel Hilde Domin in eine tiefe Depression. Sie lebte zu der Zeit bereits 11 Jahre im Exil in der Dominikanischen Republik, zusammen mit ihrem Mann Erwin Walter Palm. Sie hat ihre Mutter seit der Flucht aus England nie wieder gesehen. Der Vater war schon früher gestorben. Sie litt an seelischer Einsamkeit. Am Fremdsein in der Welt. Mit ihrer Mutter war ihr der Rest an Heimat gestorben. So muss sie es zunächst empfunden haben. Das war die Zeit, in sie zu schreiben begann. Die Sprache war ihre letzte Heimat. Die deutsche Sprache. Hilde Domin sprach italienisch, spanisch und englisch. 1955 schrieb sie das Gedicht Bitte. Sie waren gerade nach Deutschland zurück gekehrt, sie und ihr Mann. Und sie sucht Worte dafür, ihre Erfahrungen zu beschreiben. Sie sucht nach Worten, die tragen und den Weg weisen. Bitte Wir werden eingetaucht Und mit den Wassern der Sintflut gewaschen, wir werden durchnässt bis auf die Herzhaut. Der Wunsch nach der Landschaft jenseits der Tränengrenze taugt nicht, der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten, der Wunsch, verschont zu bleiben, taugt nicht. Es taugt die Bitte, dass bei Sonnenaufgang die Taube den Zweig vom Ölbaum bringe. Dass die Frucht so bunt wie die Blüte sei, dass noch die Blätter der Rose am Boden eine leuchtende Krone bilden. Und dass wir aus der Flut, dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen immer versehrter und immer heiler stets von neuem zu uns selbst entlassen werden.   Hilde Domin   Im letzten Vers des Gedichtes greift sie biblische Geschichten und Bilder auf: Noah, der aus der Flut gerettet und Daniel, der vor den Löwen bewahrt wird und die drei Jünglinge, die im Feuerofen nicht verbrennen. Sie alle entgehen dem Tod durch Gottes Gnade. Wasser, Löwen und Feuer können ihnen nicht das Leben nehmen. Aus Erwin Palms Familie entging niemand dem Holocaust. Als er 1951 nach Deutschland zurück kehrt, kehrt er in das Land zurück, das ihm seine gesamte Familie nahm. Hilde Domin hatte noch einen Bruder mit Familie. Hilde Domin sagte an einer Stelle. „Man streicht das Wort „selbstverständlich" aus seinem Lexikon." Nichts ist selbstverständlich. Zu leben ist nicht selbstverständlich. Bewahrt zu bleiben nicht. Es liegt darin auch die Dankbarkeit. Sie versteht ihre Rettung vor den Nazis als Gnade. Sie sagt: Es taugt nur die Bitte. In der sich auch die Hoffnung ausdrückt, dass die Taube den Ölzweig bringe. Hilde Domin schreibt ihr Gedicht im Präsens, in der Gegenwartsform. Wir lesen dieses Gedicht heute 54 Jahre nachdem es geschrieben wurde. Und auch mich bewegen ihre Worte. Ich lese meine eigenen Erfahrungen hinein. Das Gefühl durchnäßt zu sein bis auf die Herzhaut kenne ich. Kaum atmen zu können, bedrängt zu sein. Mich schutzlos zu fühlen und offen gelegt. Und dem dann die Bilder der Hoffnung gegenüber zu stellen, dass wir immer versehrter und immer heiler hervorgehen. Es ist so paradox. Es gibt schließlich beides in unserem Leben, das Leid und das Glück. Das sind Erfahrungen, die wir alle teilen. Die Worte tragen. Und so ist es gedacht. Als Untertitel zu der Ausgabe der Gedichte, in der auch dieses, die Bitte, steht, schrieb sie: „Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug." Das drückt all die Hoffnung und den Mut aus, sich dem Leben entgegen zu werfen. Sich nicht heraus zu halten, was Hilde Domin nie getan hat. Sondern sich aufzulehnen gegen Unrecht und klare Wort zu finden. „Nennt das Eckige eckig". Keine Euphemismen zu benutzen, sondern die Wahrheit beim Namen zu nennen. Dieser Satz steht im Plural auf ihrem Grabstein auf ihrem Grab, in dem Erwin Walter Palm und Hilde Domin liegen: „Wir setzten den Fuß in die Luft und sie trug." Was taugt, was trägt? Die Bitte und die Hoffnung.   Zu den ältesten Liedern oder Bitten gehören die Psalmen der Bibel. Den wohl bekanntesten, zumindest im protestantischen Raum, haben wir vorhin gehört: Psalm 23. Der Herr ist mein Hirte. Auch er formuliert die Hoffnung: mir wird nichts mangeln ... ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar. Andere Bilder, eine ganz andere Zeit. Und trotzdem lesen wir heute noch diese Worte. Sie werden immer wieder gewünscht von kranken oder sterbenden Menschen: Beten sie mit mir den 23. Psalm. Was taugt, was trägt? Die Bitte und die Hoffnung.   Psalm 23 Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.     Es sind nicht wir, die diese Worte tragen, sondern sie tragen uns. Erfahrungen von finsteren Tälern, von Dürre und Durst wird der bereitete Tisch entgegen gehalten. Du schenkst mir voll ein. Wir brauchen solche Bilder des Lebens, damit die Bilder des Todes nicht zu mächtig werden. Die Hoffnung hat in diesem Psalm (wie auch in allen anderen) ein konkretes Gegenüber: Gott. Im Hause Gottes werde ich bleiben immerdar. Diese Worte drücken die Hoffnung aus. Und die Dankbarbeit. Es wird nicht als selbstverständlich genommen. Als stünde uns ein Leben an vollen Tischen zu. Ein einfaches Leben, dass uns vor Dunkel und Dürre verschonte. Solche Wünsche taugen nichts. Das wissen wir. Das hat uns unsere Erfahrung gelehrt. Aus dem ersten Paradies sind wir vertrieben. In dem die Liebe bedingungslos war und das Leben leicht und ohne Gefahr. Aus dem ersten Paradies sind wir vertrieben. So beschreibt Hilde Domin auch ihre Erfahrung. Das zweite Paradies muss „aktiv erworben werden". Man kann nicht in die alte Wirklichkeit zurück kehren. Für Hilde Domin begann das 2. Paradies mit dem Schreiben ihrer Gedichte und mit der Rückkehr nach Deutschland. Sie ist als Studentin Hilde Löwenstein aus Deutschland fort gegangen und kehrte als Dichterin Hilde Domin zurück. Domin ist ihr Künstlername. Sie hat sich nach der Insel benannt, auf der sie mit ihrem Mann 12 Jahre gelebt hatte und auf der sie das Schreiben begann. Ihre Rückkehr war kein Zurück, sondern ein Nach-Vorn. Wir können nicht am alten Paradies anknüpfen als wäre die Zeit dazwischen nicht gewesen. Denn in der Zwischenzeit werden wir zu denen, die wir sind. Für Hilde Domin waren es die Worte, die aus ihr heraussprudelten, die ihr zum Weg wurden, der ihr zurück ins Leben half. Ebenso für den Psalmbeter. Auch uns heute können solche Worte helfen. Wir können sie uns leihen, wenn uns eigene Worte fehlen. Wir können darin unsere eigene Erfahrung widergespiegelt sehen. Und sie können auch uns helfen, den Weg zum Leben zu finden. Amen